In Afghanistan ist mit der bedingungslosen Machtübergabe an die Taliban die Interventions- und Regime-Change-Politik der NATO krachend gescheitert. Nach 20 Jahren Krieg und Besatzung, die angeblich Demokratie und Rechtsstaatlichkeit bringen und die Rechte von Frauen, Mädchen und Minderheiten schützen sollten, müssen jetzt Menschenrechtsverteidiger*innen, Frauenrechtler*innen, Journalist*innen, Anwält*innen, Künstler*innen, LGBTIQ, Frauen, Mädchen und jeder, der sich der Ideologie der Taliban nicht fügen will, um ihr Leben fürchten. Afghanische Medien haben ihre Arbeit fast eingestellt. Reine Musik-Kanäle können nicht mehr empfangen werden, Sendungen, die nicht mit den radikalen Vorstellungen der Taliban korrespondieren, wurden aus dem Programm genommen.

Das Fazit des Afghanistan-Einsatzes ist katastrophal: Allein 2020 sind fast 9000 Zivilist*innen und mehr als 10.000 afghanische Soldaten getötet worden. Die humanitäre Lage im Land verschlimmert sich zunehmends, wie die UN-Unterstützungsmission für Afghanistan (UNAMA) festgehalten hat. Seit Anfang 2020 hat sich die Zahl der Menschen, die auf humanitäre Hilfe angewiesen sind, von 9,4 Millionen auf 18,4 Millionen verdoppelt. Durch den zwanzigjährigen NATO-Krieg wurden mindestens 185.000 Zivilist*innen getötet. Auch 59 Bundeswehrsoldaten haben ihr Leben verloren.

Man habe die afghanische Regierung mit allen militärischen Mitteln ausgestattet, die benötigt werden, um die Taliban aufzuhalten, so #US-Präsident Joseph Biden, als er die Entscheidung zum Rückzug aus Afghanistan verkündete. Zugleich machte die CIA deutlich, dass Afghanistan an die Taliban fallen würde – wenn auch ihre dafür angesetzte Timeline (drei bis neun Monate nach dem Abzug) der Realität nicht im Entferntesten Stand gehalten hat. Warum aber wurden unzählige Waffen und Kriegsgerät zurück gelassen, wenn man doch wusste, dass das Land früher oder später von den Taliban überrannt werden würde?

Und warum wurden die Geldflüsse an die Taliban nicht gestoppt? Laut Geheimdienstkreisen nehmen sie bis zu 1,6 Milliarden US-Dollar pro Jahr ein. Dies geschieht über den Handel mit Drogen, Steuereinnahmen in Gebieten unter ihrer Kontrolle, die Ausbeutung metallischer Rohstoffe, aber auch durch Spenden von einem nach Angaben der Vereinten Nationen „Netzwerk von Nichtregierungsorganisationen“ etwa aus Saudi-Arabien und anderen Golfstaaten. Bereits 2016 listete Forbes die Taliban als fünft reichste „Terrororganisation“. Seit ihrem Sturz durch den NATO-Krieg 2001 sind sie Jahr um Jahr reicher geworden. Allein die Bilder ihrer Kämpfer zeigen, dass die Taliban von heute mit denen in zerrissenen Kleidern von 1996 wenig gemein haben.

Nicht der Abzug aus Afghanistan war falsch, sondern der Krieg und die Besatzung waren es. Bezeichnend ist auch, dass sich alle beharrlich weigern, Ergebnisse ihrer Geheimverhandlungen mit den Taliban zu präsentieren. Zumindest die afghanische Bevölkerung hat doch ein Recht, zu erfahren, ob ihre Übergabe an die Miliz schon vor Monaten besiegelt worden ist!

Und zuletzt: warum wurde nicht viel früher gehandelt, um eigene Staatsbürger und Ortskräfte, aber auch besonders gefährdete Afghaninnen und Afghanen in Sicherheit zu bringen? Jetzt mit der Bundeswehr zu evakuieren ist nichts als eine reine Machtdemonstration, die zudem für die zu Evakuierenden und die Soldaten extrem gefährlich ist. Warum hat die Bundesregierung nicht wie etwa Dänemark und Norwegen viel früher mit zivilen Flügen evakuiert? Stattdessen hat sich Innenminister Horst Seehofer noch bis letzte Woche geweigert, Ortskräfte aufzunehmen und sogar noch nach Afghanistan abgeschoben. An den Händen der Bundesregierung klebt längst Blut. Denn wer es nicht bis Kabul geschafft hat, wird kaum eine Chance bekommen, das Land zu verlassen.

Die dank US-amerikanischen und deutschen Waffen über Nacht bestausgestattete Miliz der Welt, deren Arsenal aus Panzern, Drohnen, Kampfhelikoptern und -flugzeugen, rund einer Million Handfeuerwaffen und Milliarden Schuss Munition das Arsenal mancher NATO-Staaten übersteigt, wird die Unterdrückungsmaschinerie in Afghanistan wieder voll in Gang setzen. Aber sie hat auch das Potential, darüber hinaus einen immensen Beitrag zur Destabilisierung der Region zu leisten – mit unabsehbaren Folgen für die Afghaninnen und Afghanen sowie die Menschen in den angrenzenden Ländern.

Die Bundesregierung muss ihrer Verantwortung für das von ihr mit verursachte Desaster und die lebensbedrohliche Lage in Afghanistan gerecht werden. Die Fraktion DIE LINKE. im Bundestag fordert eine Regierungserklärung durch die Bundeskanzlerin, in der sie auch erklären muss, warum die Rettungsaktionen so spät angelaufen sind und die Hilferufe afghanischer Ortskräfte so lange ignoriert wurden. Zudem bedarf es langfristig einer gründlichen Aufarbeitung des Afghanistan-Einsatzes.