Die Betonung der Bedeutung einer guten Nachbarschaft zu Polen ist wichtig und völlig richtig. Zugleich darf aber nicht weiter mit zweierlei Maß gemessen werden. Wer für sich beansprucht, eine werte- und menschenrechtsbasierte Außenpolitik zu verfolgen, darf zu massiver Diskriminierung von LGBTIQ und Frauen, zur menschenverachtenden Politik gegenüber Geflüchteten und zum immer weiter fortschreitenden Abbau der Rechtsstaatlichkeit in Polen nicht schweigen.

Während Bundeskanzler Scholz bei seinem Antrittsbesuch offensichtlich kein Problem damit hatte, polnische Reparationsforderungen abzublocken, obwohl dies in allererster Linie eben keine juristische, sondern vor allem eine moralische Frage ist, haben er und Baerbock ansonsten alle heiklen Fragen ausgespart. Aber Zurückhaltung und Sich-Wegducken kann angesichts der Situation in Polen keine Option sein. Gerade im Sinne guter Nachbarschaft wäre es wichtig gewesen, den rapiden Abbau von Rechtsstaatlichkeit und Pressefreiheit in Polen genauso anzusprechen wie die Missachtung der Rechte von LGBTIQ und von Frauen durch die rechte polnische Regierung. Auch habe ich klare Worte zur Missachtung von internationalem Recht an der polnisch-belarussischen Grenze vermisst. Die illegalen Push-Backs gehören genauso angeprangert wie die Sperrzone, in die weder Ärztinnen und Ärzte, humanitäre Helferinnen und -helfer noch Menschenrechtlerinnen und Menschenrechtler gelassen werden.

Die Bundesregierung muss aufhören, mit doppeltem Maß zu messen. Menschenrechtsverletzungen werden nicht schlimmer oder weniger schlimm, je nachdem wer ihr Urheber ist. Wer von werte- und menschenrechtsbasierter Außenpolitik spricht, muss sicherstellen, dass dies überall gleichermaßen gilt. Sonst geht jedes letzte Fünkchen an Glaubwürdigkeit verloren.