Persönliche Erklärung nach § 31 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen SPD, CDU/CSU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP: Holodomor in der Ukraine: Erinnern – Gedenken – Mahnen.

Anfang der 1930er-Jahre waren in verschiedenen Teilen der Sowjetunion Millionen Tote einer Hungersnot zu beklagen. Die überwiegende Mehrheit der Historiker zweifelt nicht daran, dass diese grauenhafte Katastrophe durch politische Entscheidungen der sowjetischen Führung verschärft worden ist – vor allem im Zusammenhang mit der Kollektivierung der Landwirtschaft. Der Millionen Toten zu gedenken, ist ein Gebot der Menschlichkeit. Unsere Empathie und Haltung bedeuten nicht, dass wir diese durch Hungersnot und millionenfachen Tod charakterisierte Tragödie als Völkermord anerkennen. Unsere Position steht nicht im Widerspruch zum Stand der wissenschaftlichen Debatte. Wir lehnen den Antrag daher ab.

Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages haben wiederholt dargelegt, dass in der Geschichtswissenschaft kontrovers diskutiert wird, ob die Hungerkrise von 1932/33 als Völkermord anzuerkennen sei. Eine Petition, die eine solche Einschätzung zum Ziel hatte, ist aus diesen Gründen im Jahr 2017 vom Petitionsausschuss abgelehnt worden. In seiner Beschlussempfehlung, die vom Bundestag am 5. September 2017 angenommen wurde, heißt es, eine abschließende Bewertung, ob die Hungertoten „als Opfer eines Genozids im Sinne der späteren Völkermordkonvention der Vereinten Nationen zu verstehen sind, steht noch aus. Dennoch spricht einiges dagegen. […] Abschließende Wertungen sollten nach Meinung des Petitionsausschusses der Wissenschaft vorbehalten bleiben.“ Auch im Entwurf einer Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses vom Frühjahr dieses Jahres 2022 wird darauf hingewiesen, dass in der wissenschaftlichen Debatte nach wie vor umstritten sei, ob der Holodomor die Merkmale eines Völkermords erfülle.

Ein Parlament sollte nicht den Ehrgeiz besitzen, in der Wissenschaft umstrittene Fragen entscheiden zu wollen. Ein solches Vorgehen setzt sich nachvollziehbar dem Verdacht aus, eine geschichtspolitische Debatte für aktuelle politische Zwecke instrumentalisieren zu wollen.

Diese Tendenz der Instrumentalisierung wird vor allem dadurch deutlich, dass der Antrag das Gedenken an die Opfer der furchtbaren Hungerkatastrophe ausdrücklich in den Kontext des derzeitigen völkerrechtswidrigen russischen Krieges gegen die Ukraine stellt. Nur eine von vier Forderungen, mit denen der Antrag schließt, bezieht sich auf die Erinnerung an den Holodomor. Die Forderung danach, die Ukraine „weiterhin politisch, finanziell, humanitär und militärisch zu unterstützen“, schließt auch die Forderung nach weiterer Lieferung von Waffen und Rüstungsgütern in die Ukraine ein. Eine solche Verknüpfung lehnen wir ab.

Den vorliegenden Antrag lehnen wir auch aus anderen Gründen ab. Er führt aus, der Holodomor reihe „sich ein in die Liste menschenverachtender Verbrechen totalitärer Systeme, in deren Zuge vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Europa Millionen Menschenleben ausgelöscht wurden“. Eine solche Einschätzung entkräftet vorhergehende Feststellungen der Singularität des Holocaust. Die Verwendung des Begriffes „Liste“ nicht zuletzt im Kontext mit dem faschistischen Vernichtungskrieg und daher der Ermordung von sechs Millionen Jüdinnen und Juden wie auch der halben Million Sinti und Roma relativiert den durch Hitler-Deutschland begangenen Völkermord. Eine solche Relativierung der beispiellosen Menschheitsverbrechen durch das deutsche NS-Regime können wir nicht mittragen.

Wir verweisen an dieser Stelle auch darauf, dass Israel ebenfalls die Anerkennung des Holodomor als Genozid ablehnt.

Quelle: https://dserver.bundestag.de/btp/20/20072.pdf (Seite 102/103 der pdf-Datei, Seiten 8450 und 8451 im Plenarprotokoll des Deutschen Bundestages)