Am 29. Mai hatten wir die Gelegenheit, mit mehreren Familien zu sprechen, die aus Afrin geflüchtet sind. Zur Zeit sind 170.000 Menschen aus Afrin auf der Flucht vor islamistischen Gruppen und der türkischen Invasion. Viele von ihnen konnten nur mit ihrem Hemd am eigenen Leibe fliehen, weil sie zuvor aus den Dörfern rund um Afrin evakuiert worden waren – in der Hoffnung, bald wieder zurückkehren zu können. Eine Hoffnung, die heute weiter entfernt ist als je zuvor. Die deutsche Bundesregierung und die Weltgemeinschaft dürfen nicht weiter wegschauen und die Verbrechen der Erdogan-Regierung stillschweigend billigen!

Vierzehn assyrische Dörfer liegen am Tal von Til Temer, deren Einwohner durch den so genannten IS im Frühjahr 2014 vertrieben wurden. Im Sommer 2016 wurde der IS wie in den meisten Gebieten Nordsyriens auch in Til Temer geschlagen. Nur wenige der assyrischen Einwohner kehrten in ihre Dörfer zurück. In einem dieser leeren Dörfer, in Til Nesrî, sind Anfang Mai diesen Jahren 70 Familien aus Afrin angesiedelt worden, mit Zustimmung der assyrischen Gemeinde.

Ehlem, eine ca. 40-jährige Frau, mit kraftvollem aber abwesendem Blick setzt sich zusammen mit anderen Flüchtlingen aus Afrin zu uns und beginnt auf unsere Nachfragen hin zu erzählen: „Was wir in Afrin erlebt haben, war keine Kriegssituation zwischen zwei Kriegsparteien. Für die türkische Armee waren alle Einwohner Afrins das Ziel. Nicht nur Menschen, auch kurdische Geschichte, Friedhöfe oder Denkmäler wurden in Afrin zerstört. Zuerst trieben sie die Menschen aus den Dörfern in das Stadtzentrum von Afrin, wo hunderte Zivilisten zum Opfer fielen. Dann begannen sie hunderttausende Menschen mit Mörsern und Kampflugzeugen anzugreifen. Es lagen viele Leichen auf den Straßen von Afrin. Auch meine Tochter, die erst 16 Jahre alt war, starb dabei. 17. März beschlossen die Verteidiger von Afrin die Stadt zu räumen. Wir haben alles verloren und zurückgelassen.“ Ahmet, ein etwa fünfzigjähriger Mann, der bei Cinderese als Lehrer arbeitete, erzählt: „Die türkische Armee rückte mit Dschihadisten in unsere Dörfer. Sie plünderten all unser Hab und gut – wir konnten nichts mitnehmen. Diejenigen, die dort geblieben sind, mussten Schutzgeld zahlen und werden als Geisel behandelt. Sie kommen vorbei und sagen, ihr seid YPG, gibt uns 1000 Dollar, dann lassen wir euch in Ruhe. Danach kommt die nächste Gruppe und verlangt dasselbe. Sie haben die Scharia ausgerufen. Die Frauen müssen sich vollverschleiern und dürfen nur mit männlicher Begleitung raus. Die Menschen sind gezwungen, nach der sogenannten Scharia zu leben. Stellen Sie sich vor, das geht von einer Nato-Armee aus.“

Melsa, eine etwa 20-jährige junge Frau aus dem Dorf Hisê fällt ihm ins Wort und sagt, dass ein Anführer der Dschihadisten die 12-jährige Tochter ihrer Nachbarin zu Frau nehmen wollte. Die Mutter, die Gefahr erkennend, wollte ihn hinhalten und sagte, man müsse die Traditionen beachten und die Heirat solle deshalb am nächsten Tag stattfinden. Sie nutzte die Nacht und die floh mit ihrer Tochter und Familie zunächst nach Afrin. Melsa berichtet, dass auch sie mit dieser Familie am 18. März von Afrin nach Shehba geflohen ist. Im Flüchtingscamp Shebha, auf dem Gebiet des syrischen Regimes, leben zur Zeit ca. 120.000 Menschen aus Afrin. In Shehba haben die Menschen in Plastik-Zelten gewohnt. Es gab weder Medikamente noch sauberes Trinkwasser, viele gingen in andere Gebiete Syriens. Melsa ist mit ihrer Familie nach Til Nesrî gekommen. Wir fragen die Flüchtlinge, ob sie eine Botschaft haben. Wieder ergreift Ehlem das Wort und sagt: „Ich möchte an das Grab von meiner Tochter, ich möchte wieder zurück auf meine Erde in Afrin, ich möchte, dass meine Stimme gehört wird.“ Wir verabschieden uns mit einem merkwürdig leeren Gefühl von den Flüchtlingen und machen uns auf dem Weg nach Kobane. Jene Stadt, deren Zerstörung und Widerstand wir vor drei Jahren aus der Ferne sehr nah beobachteten.